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Gefilmte Wirklichkeit

Tobias Obermeier
Tobias Obermeier

Sechs Dokumentarfilme aus dem diesjährigen Programm, die Sie nicht verpassen sollten.

Gefilmte Wirklichkeit

Dokumentarfilme sind ein zentraler Türöffner für das Verständnis unserer Umwelt und Mitmenschen. So offenbaren sich erst durch den retrospektiven Blick auf vergangene Momente und den dadurch gewonnenen zeitlichen Abstand Erkenntnisse, die uns im unmittelbaren Augenblick sonst verschlossen bleiben. Dieser konservierende Zugriff auf die Wirklichkeit, den uns das Medium Film respektive die Fotografie erlaubt, spielt auch im argentinischen Dokumentarfilm ESSAY FOR THE MEMORY (Programm 8) von Denise Vanesa Chirich Barreira eine herausragende Rolle.

Vor dem Hintergrund des Gedenkens an die Opfer der argentinischen Militärdiktatur verhandelt der Film in einer Collage aus Archivbildern, Gesprächen mit Hinterbliebenen sowie persönlichen Erinnerungen der Regisseurin die Frage, wo Erinnerungen (auf-)bewahrt werden, die sich nicht auf einem Fotos festhalten lassen. So gesehen geht es um das, was Film und Fotografie eben nicht konservieren können. Immer wieder reflektiert der Film dabei seine eigene Konstruiertheit. Nicht zuletzt in diesem Reflexionsprozess entsteht ein Puzzle aus lauter kleinen Teilen, die nicht zusammenpassen und in ihren unendlichen Kombinationsmöglichkeiten an unsere oftmals trügerischen Erinnerungen denken lassen.

Essay For The Memory Online1

Essay for the memory

All My Scars Vanish In The Wind Online1

all my scars vanish in the wind

Eine Verarbeitung von Erinnerungen der ganz anderen Art ist in ALL MY SCARS VANISH IN THE WIND (Programm 3) von Angélica Restrepo Guzmán und Carlos Velandia zu sehen. In einer Mischung aus Dokumentar- und Animationsfilm erzählt eine innere Stimme von Gewalt und der Flucht in eine neue Freiheit. Die Stimme der Erzählerin ist einerseits voller Schmerz, aber auch voller Hoffnung. So spendet sie ihrem inneren Kind Trost und wird zu ihrer eigenen Beschützerin. Auf der Bildebene ist ein diffuser Strom flüchtiger Partikel zu sehen, in dem sich abstrakte Räume aus der Vergangenheit abzeichnen, mit denen traumatische Erinnerungen verknüpft sind.

Doch auch die Gegenwart lässt sich anhand des Dokumentarfilms besser verstehen. So etwa jene Gegenwart von Mariusz und seinem erwachsenen Sohn in Jakub Gomółkas FATHER.SON (Programm 7). Beide wurden erst vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen. Im Alltag wieder Fuß zu fassen, fällt ihnen schwer. Der Film begleitet beide, wie sie sich in ihren Gesprächen gegenseitig stützen und offen über ihre Situation reden. Dabei zeigt sich eine tiefe Verbundenheit zwischen ihnen. Sie haben jedoch jegliche Hoffnung aufgegeben, mit ihrem sozialen Hintergrund, ihren Erfahrungen im Gefängnis und ihrer Drogensucht jemals „wertvolle“ Mitglieder einer Gesellschaft zu werden, die sich um Menschen wie sie nicht kümmert.

So gesehen sind Dokumentarfilme immer auch Momentaufnahmen, die die jeweiligen individuellen aber gesellschaftlichen Verhältnisse einfangen. Diesen Ansatz nutzt auch Regisseur Radek Ševčík für seinen Film POISONED WELL (Programm 1). Am 12. Oktober 2022 erschoss ein neunzehnjähriger Attentäter zwei Menschen vor einer Gay-Bar in Bratislava. Ausgehend von diesem Terrorakt fängt er die eklatant homophobe und queerfeindliche Stimmung in der erzkonservativen slowakischen Gesellschaft ein, in der sich queere Menschen nicht mehr auf die Straße trauen und gezwungen sind Selbstverteidigungskurse zu machen.  

Das dokumentarische Format kann aber genauso eingesetzt werden, um aus der Gegenwart heraus das einzufordern, was noch nicht ist. So wie in ALL ABOUT MY BODY HAIR (Programm 9) von Bella Meer und Kristiina Kekomäki. Die beiden Regisseurinnen verhandeln in ihrem Film den gesellschaftlichen Druck, der auf Frauen aufgrund der jeweils bestehenden Schönheitsstandards lastet. Denn was ist schon „normal“ und „schön“ und wer entscheidet eigentlich darüber? Vor allem das Thema weibliche Körperbehaarung ist nach wie vor stark schambehaftet. Dem will der Dokumentarfilm etwas entgegensetzen. Mit seinen Protagonistinnen reflektiert er das komplexe Verhältnis zu Körperhaaren und tritt zugleich für einen offeneren und entspannteren Umgang damit ein.

Der Protagonist eines Dokumentarfilms muss aber auch kein Mensch sein. Denn was passiert eigentlich mit all den Büchern, die keinen Platz mehr in der (Privat-)Bibliothek haben und die keine/n Käufer:in mehr auf dem Flohmarkt finden? Wo landen jene Bücher? Und was sagen diese Bücher über ihre ehemaligen Besitzer:innen beziehungsweise uns Menschen aus? Diesen Fragen geht GOODBYE WORDS (Programm 10) von Laura Rantanen nach. Der poetische Dokumentarfilm begleitet Bücher auf ihrer letzten Reise und erzählt dabei beiläufig und ganz nonchalant auch vom Kreislauf des Lebens und der Akzeptanz des Todes. So enden Klassiker der Weltliteratur schon mal als Dämmmaterial für Hauswände – und das kann man traurig, aber auch tröstlich finden.

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