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QUEERES SELBSTBEWUSSTSEIN

Tobias Obermeier
Tobias Obermeier

Diversität im Wettbewerbsprogramm

QUEERES SELBSTBEWUSSTSEIN

Fragen zu Gender und Geschlechteridentität finden immer häufiger den Weg in gesellschaftliche Debatten. Queere Menschen treten vermehrt in der Öffentlichkeit in Erscheinung, sei es in den Medien oder in der Politik. Und trotz eines rechten und konservativen Backlashs in den letzten Jahren, kann in der Gesellschaft eine stetige Sensibilisierung für diese Themen beobachtet werden. Dass die Thematik auch beim Filmnachwuchs zunehmend eine Rolle spielt, zeigt sich dieses Jahr in besonderem Maße.

Eine Vielzahl der Filme im Wettbewerb ist sich nämlich in einem Punkt einig: Überholte Normen zur Geschlechteridentität müssen über Bord geworfen werden. Über alle Ländergrenzen hinweg hinterfragen sie vormalige Gewissheiten zum Geschlecht oder beseitigen diese gleich. Es geht dabei aber auch um Identitätskonflikte, mit denen einige Protagonist*innen zu kämpfen haben. Und ebenso um die Frage, wie die politischen Rahmenbedingungen das Ausleben der eigenen Sexualität beeinflussen oder gar verhindern.

Dabei blicken manche Filme mehr oder weniger weit in die Vergangenheit zurück. So greift FROG CATCHER die wahre Geschichte des transsexuellen Froschfängers Jeanne Bonnet auf, der im 19. Jahrhundert in San Francisco als Außenseiter lebte und ein tragisches Ende fand. Dort war es zu der Zeit verboten, als Frau Männerkleidung zu tragen. Dazu zählten auch Hosen, die Jeanne Bonnet trägt und wegen denen er von allen als „Mann-Frau“ verspottet wird.

Noch weiter zurück in die Vergangenheit - aber auf eine gänzlich andere Weise - schaut der glitzernd-pinke Antik-Film ELAGABALUS. Mit einer ordentlichen Portion übertriebener Theatralik und einem Hang zur Camp-Ästhetik, erzählt er vom ausschweifenden und exzessiven Leben des römischen Kaisers Elagabalus, der im 3. Jahrhundert n. Chr. herrschte und dem ein furchtbares Ende prophezeit wurde. Viel nackte Haut, Tanzeinlagen und eine retrohafte 80s-Popmusik machen den Film zu einer queeren Neuinterpretation des Antiken-Theaters.

Was es bedeutet, wegen seiner sexuellen Orientierung im eigenen Land nicht mehr Leben zu können, vermittelt auf eindrückliche Weise der halb dokumentarische, halb fiktive Film THE DRAGON WITH TWO HEADS. Der Regisseur Páris Cannes und sein Bruder Juergen sind Zwillinge und schwul. Beide flohen vor der zunehmend homophoben Stimmung in ihrem Heimatland Brasilien. Der eine lebt seitdem legal in Brüssel, der andere als illegaler Immigrant in Berlin. Gedreht wurde der Film 2018, kurz bevor Jair Bolsonaro, der offensiv davon spricht, dass die „Genderideologie“ bekämpft werden muss, an die Macht kam. Für queere Menschen bedeutet das, dass ihr Leben in Brasilien, noch unerträglicher und gefährlicher wird. Mehr als die Hälfte der jährlichen Morde an Homosexuellen finden laut Film in Brasilien statt. Trotzdem möchte THE DRAGON WITH TWO HEADS kein beklemmender Dokumentarfilm sein. In träumerisch-inszenierten Bildern zeigen die Brüder immer wieder, dass sie sich von den fürchterlichen Zuständen in ihrer Heimat nicht unterkriegen lassen.

Dass Musik als wichtiges Sprachrohr für die Kommunikation eigener Bedürfnisse dient, zeigt der Dokumentarfilm FEMININE HIP-HOP. Der Film wirft einen Blick auf die weibliche und vor allem queere Hip-Hop-Szene in Montréal. Drei Künstler*innen sprechen über ihre Leidenschaft für die Musik und darüber, was es für ihre eigene Identität bedeutet, Hip-Hop zu machen. Denn das heißt leider immer noch, sich gegen Transphobie und Homophobie zur Wehr setzen zu müssen.

Einen gänzlich ungewohnten Blick auf die Thematik der Geschlechteridentität wirft der Film DRIFTING. Ein junger Mann ohne Namen wurde während der Zeit der Ein-Kind-Politik von seinen Eltern als Mädchen erzogen, während die tatsächliche Tochter auf dem Land bei den Großeltern versteckt wurde. Der Protagonist muss in seiner Jugend feststellen, dass es für jemanden wie ihn, der Aufgrund seiner Erziehung weder in die Kategorie „Mann“ noch „Frau“ passt, in der chinesischen Gesellschaft keinen Platz gibt. Nur wenn er im Auto seines Vaters auf einem Parkplatz driftet, kann er seiner Wut freien Lauf lassen.

Zwei Filme machen deutlich, dass Queerness auch als Teil einer Normalität angesehen werden kann, die nicht weiter hinterfragt werden muss. So etwa im Film KID, in dem ein homosexueller End-Zwanziger erkennt, dass seine Freunde im Erwachsenenleben angekommen sind, nur er nicht. Neben seinem Job als Lehrer verbringt er seine Zeit mit Feiern und flüchtigen Sexbekanntschaften. Seine sexuelle Orientierung wird zwar offen gezeigt, aber nie als mögliche Ursache dafür herangezogen, dass er alleine zurückbleibt, während die anderen heiraten, zusammenziehen oder eine Karriere im Ausland starten. Er ist einfach das Kind, das noch nicht erwachsen werden will. In L’HOMME JETÉE fühlt sich ein Dockarbeiter zu einem Seemann und dessen hartem Leben auf einem Frachter hingezogen. In milchig-blauen Bildern erzählt Regisseur Loïc Hobi von der seltsamen Anmut des Lebens auf See, wo harte Männerrituale und Saufgelage ebenso selbstverständlich sind, wie homosexuelles Begehren.

Auch wenn die Filme die Thematik in unterschiedlichster Weise verhandeln, so zeigt sich doch eine wichtige Erkenntnis: Queerness muss zur Selbstverständlichkeit werden, zu einem Teil unserer Normalität, die nicht weiter hinterfragt wird – auch im Film. Denn Liebe kennt keine Grenzen, auch keine geschlechtlichen.

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